Exklusiv-Interview mit Ungarns Minister-Präsidenten Viktor Orbán – Darum baut Ungarn einen Zaun gegen Flüchtlinge

BILD: Herr Premierminister, was haben Sie empfunden, als Sie das Foto vom toten Flüchtlingsjungen am Strand von Bodrum in den Zeitungen sahen?

Viktor Orbán: „Ich war erschüttert, jedes verlorene Leben ist eine Tragödie. Ich dachte aber auch an die Eltern des Jungen: Sie haben sich von einem sicheren Flüchtlingslager außerhalb Syriens auf die Reise gemacht, ihr Leben und das ihrer Kinder aufs Spiel gesetzt. Man muss ihnen klarmachen, dass die Gefahren, die auf dem Weg nach Europa lauern, von uns nicht übernommen werden können. Deshalb wäre es besser, wenn sie nicht kommen würden.“

BILD: Haben Sie Mitleid mit den Flüchtlingen?

Bild-Foto: Daniel Biskup.

Orbán: „Ja sicher, jeder Christ hat da Mitleid. Aber Mitgefühl ist nicht genug. Wir müssen handeln.“

BILD: Sie sagen, die Flüchtlingskrise sei ein „deutsches Problem“ – was macht Kanzlerin Angela Merkel Ihrer Meinung nach falsch?

Orbán: „Die deutsche Bundeskanzlerin macht immer alles richtig – das ist Artikel Nummer 1 in der ungarischen Verfassung … (lacht)

Aber wir müssen ernsthaft über die Folgen der deutschen Entscheidung sprechen, die Migranten nach Deutschland zu lassen. Diese Ankündigung hat in Ungarn eine Revolte ausgelöst. Migranten sind aus den Unterkünften ausgebrochen, haben Polizisten angegriffen. Sie verweigerten, sich registrieren zu lassen, wie es das EU-Recht vorschreibt. Zuvor hatten unsere Behörden die Lage – wenn auch mit Mühe – im Griff. Erst als die deutsche Regierung ankündigte, EU-Regeln ‚vorübergehend‘ außer Kraft zu setzen, brach bei uns das Chaos aus. So etwas geschieht, wenn man Regeln nicht einhält.“

BILD: 1989 hat Ungarn weniger auf Regeln gepocht: Tausende DDR-Bürger durften nach Österreich ausreisen, der Eiserne Vorhang fiel. Warum ist das heute nicht möglich?

Orbán: „Es gibt einen wichtigen Unterschied: Die DDR-Flüchtlinge waren hier nicht illegal, sie wurden ganz offiziell in der bundesdeutschen Botschaft untergebracht. Dort wurden sie verpflegt und warteten. Sie haben nicht auf die ungarischen Gesetze gepfiffen. Dann haben die Ungarn ihre eigene Grenze aufgelöst. Heute sind es Fremde, die unsere Grenzen durchbrechen. Der Zaun des Kommunismus richtete sich gegen uns. Der Zaun, den wir jetzt errichten, ist für uns.“

BILD: Wie fühlt man sich als der Oberschurke Europas – wollen Sie sich weiter gegen den Rest des Kontinents stellen?

Orbán: „Ich kann nur sagen: Ich stehe hier und kann nicht anders. Wir Ungarn sind Europäer, wir haben mit Europa einen Vertrag abgeschlossen, wir garantieren, dass die Europäer sich frei bewegen können und ihre Grenzen geschützt sind. Daran haben wir uns immer gehalten.

Die Menschen, die zu uns kommen, werden zweimal betrogen: von den Schleppern. Und von EU-Politikern. Beide versprechen ihnen ein besseres Leben und dass sie bei uns bleiben können – auch dann, wenn in ihrer Heimat wieder Frieden herrscht. Aber sie werden lernen, dass der Honig, der in Deutschland fließt, weniger süß ist, als sie denken. Denn ein gutes Leben ist eine Frage der Leistung und nicht der Ansprüche.“

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BILD: Haben Sie selbst einmal das Elend hier am Budapester Ostbahnhof gesehen?

Orbán: „Ich war dort, bin aber nicht reingegangen …“

BILD: Ein Selfie-Foto mit Flüchtlingen, wie es Kanzlerin Merkel gerade in einer Berliner Unterkunft gemacht hat, wäre hier nicht möglich?

Orbán: „Nun ja, ich bin wohl derzeit nicht der Liebling aller Migranten. Aber ich messe meine Politik auch nicht am Zeithorizont eines Fotos.“

BILD: Würden Sie selbst eine Flüchtlingsfamilie aufnehmen?

Orbán: „Ja, wenn das bei Migranten nicht als Ermutigung verstanden würde, nach Europa zu kommen. Heute wäre das nicht ratsam. Andererseits: Meine Frau und meine Kinder engagieren sich sehr und helfen.“

BILD: Ab kommenden Dienstag sind Ungarns Grenzen dicht. Wo sollen all die Flüchtlinge dann hin?

Orbán: „Zurück.“

BILD: Wohin zurück?

Orbán: „Dorthin, wo sie herkamen. Diese Migranten kommen ja nicht aus dem Kriegsgebiet zu uns, sondern aus Lagern in den Nachbarstaaten Syriens: aus dem Libanon, Jordanien, der Türkei. Dort waren sie in Sicherheit. Diese Menschen fliehen also nicht vor der Gefahr, sie sind bereits geflohen und mussten nicht mehr um ihr Leben fürchten. Diese Menschen kommen nicht nach Europa, weil sie Sicherheit suchen, sondern sie wollen ein besseres Leben als in den Lagern. Sie wollen ein deutsches Leben, vielleicht ein schwedisches. Die Lebensumstände in Griechenland, Mazedonien, Serbien, Ungarn und Österreich genügen ihnen nicht. Persönlich kann ich das verstehen. Aber fest steht: Es gibt kein Grundrecht auf ein besseres Leben, nur ein Recht auf Sicherheit und Menschenwürde.“

BILD: Viele Regierungschefs in Europa wollen dennoch Flüchtlinge aufnehmen

Orbán: „Die europäischen Spitzenpolitiker leben im Moment in einer Traumwelt. Sie haben keine Ahnung von der tatsächlichen Gefahr, die die Einwanderer für uns bedeuten. Auch nicht von der Größenordnung des Problems: Wir reden hier über zig Millionen Menschen. Der Nachschub ist endlos: aus Pakistan, Bangladesh, Mali, Äthiopien, Nigeria. Wenn wir die alle reinlassen, geht Europa zugrunde.“

BILD: Was also muss Europa tun?

Orbán: „Wir haben einen Plan, den ich den anderen Ministerpräsidenten der EU bei unserem nächsten Treffen vorlegen werde. Dazu gehört, dass wir die Nachbarstaaten Syriens mit massiven Finanzhilfen unterstützen. Dazu gehören die Türkei, Libanon, Jordanien. Allein die Türkei leistet seit langer Zeit Ungeheures in der Flüchtlingsfrage. Wir Europäer sollten eigentlich jede Woche eine Messe für Präsident Erdogan lesen, unabhängig von verschiedenen politischen Ansichten. Wir dürfen Länder wie die Türkei nicht im Stich lassen und dabei dürfen wir nicht geizig sein.“

BILD: Was heißt das genau?

Orbán: „Ich schlage vor, dass jedes Land ein Prozent zusätzlich in den Haushalt der EU einzahlt. Zugleich senken wir die Ausgaben für andere Zwecke generell um ein Prozent. Das ergibt rund drei Milliarden, mit denen wir die Nachbarstaaten Syriens unterstützen können. Und wenn mehr Geld nötig ist, stocken wir die Hilfen auf – so lange, bis der Flüchtlingsstrom versiegt. Dieses Verfahren verhindert, dass wir untereinander endlos über Haushaltsfragen debattieren. Denn jetzt ist schnelle Hilfe nötig.“

BILD: Was ist mit den Flüchtlingen, die schon in Europa sind?

Orbán: „Da dürfen wir uns nichts vormachen: Von denen will niemand wieder zurückgehen. Ich befürchte, dass sie alle hier bleiben.“

BILD: Was spricht dann dagegen, diese Menschen, die schon bei uns sind, mit einer Quoten-Regelung gerecht auf die Länder der EU zu verteilen?

Orbán: „Zwei Punkte sprechen dagegen. Erstens: Eine Quote macht erst Sinn, wenn unsere Grenzen geschlossen sind. Bis dahin weiß keine Regierung, um wie viele Menschen es konkret geht. Denn es werden immer mehr. Zweitens: Können wir Migranten wirklich daran hindern, dorthin zu gehen, wohin sie wollen? Sollen wir sie in europäischen Hauptstädten festbinden, damit sie nicht zurückkehren nach Deutschland? Wer kann sie in Estland, Slowenien oder Portugal halten, wenn sie nach Deutschland wollen? Das ist eine Illusion.“

BILD: Bleiben Sie bei diesem NEIN zur Quote auch dann, wenn die EU Strafzahlungen oder Sanktionen androht?

Orbán: „Ich sehe das gelassen, es ist noch niemand bestraft worden, weil er EU-Recht befolgt hat. Statt über die Quote nachzudenken, sollte Brüssel lieber den Druck auf Griechenland erhöhen. Denn dort werden die Außengrenzen der EU bereits seit Jahren nicht mehr geschützt. Würde Griechenland seinen Verpflichtungen nachkommen, hätten wir die ganze Flüchtlingskrise nicht. Weder in Berlin, noch in Budapest. Aber so sind wir Europäer nun einmal: Wir möchten gerne gute Menschen sein. Gegenüber den armen Griechen und den vielen Flüchtlingen. Nur die Konsequenzen wollen wir nicht wahrhaben.“

BILD: Gehört eine „Islamisierung“ zu den Gefahren für Europa, vor denen Sie warnen?

Orbán: „Ich persönlich bin ein Verehrer des Islam. Ohne die Philosophie des Islam wäre ein Teil der Welt längst der Barbarei verfallen. Aber auch hier dürfen wir uns nichts vormachen: Durch Zuwanderung werden Muslime in absehbarer Zukunft in Europa in der Mehrheit sein. Wenn Europa einen Wettkampf der Kulturen zulässt, dann werden die Christen verlieren. Das sind die Fakten. Der einzige Ausweg für diejenigen, die Europa als christlichen Kulturkreis erhalten wollen, ist: nicht immer mehr Muslime hereinlassen! Aber darüber reden Europas Spitzenpolitiker nicht gern.“

BILD: Sehen Sie eine Chance, die Ursache der Flüchtlingskrise zu beheben: den Bürgerkrieg in Syrien?

Orbán: „An dem Ausbruch dieses Krieges ist der Westen genauso beteiligt wie die arabische Welt und andere Staaten. Und auch eine Lösung des Konflikts wird nur gelingen, wenn alle Parteien daran mitwirken, die Barbarei dieses Krieges zu stoppen. Zu dieser Allianz müssen sich vor allem die ,großen Jungs‘ zusammenraufen: Amerika und Russland. Aber auch Europa, die arabischen Staaten und sogar China werden mitreden.“