Imre Kertész beklagt die „Holocaust-Industrie”

 

Der Literaturnobelpreisträger Imre Kertész (Archivbild)Der 84-jährige ungarische Literaturnobelpreisträger und Auschwitz-Überlebende Imre Kertész zieht ein bitteres Lebensresümee. Mit 15 Jahren wurde er auf der Straße in Budapest verhaftet und nach Auschwitz deportiert. Später kam er nach Buchenwald. Es hat lange Jahre gedauert, bis er eine Sprache fand, in der er über seine Erlebnisse schreiben konnte. Im Interview mit der ZEIT erzählt er jetzt, dass es ein einziger, fast mystischer Augenblick war, der ihn zum Schriftsteller gemacht hat. Zuvor hatte er nur Anekdoten über Auschwitz erzählt, doch in diesem einen Augenblick begriff er, was mit ihm geschehen ist: „Einmal im Leben muss der Mensch verstehen, wo er lebt und dass er lebt.” Er wurde von einer Sekunde zur anderen ein anderer Mensch und sein zukünftiges Werk stand ihm klar vor Augen.

Dennoch sagt er nun, er habe die Literatur immer für zweitrangig erachtet. Sein eigentliches großes Lebensthema war einzig der Totalitarismus und das, was er aus dem Menschen macht – die unendliche Biegsamkeit des Menschen. Es habe ihn nie interessiert, nur einen guten Roman zu schreiben oder eine gute Geschichte zu erzählen. Er sagt, es seien schon genug Geschichten erzählt worden. Darauf komme es nicht an. Wenn er im Leben auf etwas stolz sei, so einzig darauf, den „funktionalen Menschen” beschrieben zu haben. „Ich wollte nie ein großer Schriftsteller werden, ich wollte nur verstehen, warum die Menschen so sind.”

In den vergangenen zehn Jahren hat Imre Kertész in Berlin gelebt, in einer Seitenstraße des Kurfürstendamms. Er liebte Berlin, für ihn ist die ehemalige Reichshauptstadt noch immer ein Sehnsuchtsort und ein Freiheitsversprechen. Kertész sprach im Deutschen Bundestag und bei zahlreichen Gedenkveranstaltungen, er war ein wichtiger Protagonist der deutschen Erinnerungskultur. Seine Rolle in Deutschland sieht er jedoch inzwischen sehr kritisch: Er nennt sich einen „Holocaust-Clown” der Deutschen und sagt, das Gedenken in Deutschland sei eine Holocaust-Industrie geworden. Er habe sehr darunter gelitten, sich diesem Geschäft nicht entzogen zu haben, sah sich aber außerstande dazu: „Man macht mit den Menschen, was man will.”

Seine Zukunft sieht er schwarz: „Ich habe alle meine großen Augenblicke schon gehabt. Es ist fertig. Und ich bin noch da.” Er bedauert es, seinem Leben nicht eher ein Ende gesetzt zu haben. Kertész leidet seit Jahren an Parkinson und kann seine Wohnung in Budapest nicht mehr verlassen. Sein letzter Satz im ZEIT-Interview lautet: „Ich bin sehr müde.”

Das vollständige Interview mit Imre Kertész lesen Sie ab Donnerstag in der neuen Ausgabe der ZEIT.