Die jahrelang stark fragmentierte und untereinander teilweise verfeindete Opposition hat sich mit Beginn des Jahres auf eine Wahlallianz geeinigt. Möglich war diese nur, weil Ex-Premier Gordon Bajnai zugunsten von Attila Mesterházy auf die Kandidatur für den Premiersposten verzichtet hatte. derStandard.at sprach mit dem Geschäftsmann und Ökonomen, der mit der Regierung Orbán hart ins Gericht geht. Orbán habe ein Regierungsmodell postsowjetischen Zuschnitts etabliert, das nur den Interessen des Orbán-Clans diene.
derStandard.at: Mit dem Ende Ihres Mandats als ungarischer Ministerpräsident im Jahr 2010 haben Sie angefangen, an US-Universitäten zu lehren. Was hat Sie bewegt, in die ungarische Politik zurückzukehren?
Gordon Bajnai: Ich sah, dass die ungarische Regierung das Land auf einen historischen Irrweg führt. Ich sah, wenn diese Regierung dauerhaft an der Macht bleibt, dann wird sie Ungarn von Europa abkehren und es in ein Land postsowjetischen Stils umwandeln. Ich dachte, dass ich als Ex-Premier verantwortlich dafür bin, die Opposition zu organisieren und einen breiten Zusammenschluss zu schaffen.
derStandard.at: Die Gründung der Wahlbewegung „Gemeinsam 2014” war mit großer Hoffnung gepaart. Die Erwartungen der zwischendurch in eine Partei umgewandelten Bewegung spiegeln die Anfangseuphorie nicht wider.
Gordon Bajnai: Ich bestreite das. Laut den letzten Umfragen liegt die Unterstützung der Partei „Gemeinsam 2014” bei neun Prozent. Im Jahr 2010 haben zwei Drittel dieser Bürger nicht die Linke gewählt. Wir haben neue, unsichere Wähler im signifikanten Ausmaß angesprochen, die ein ruhiges, ausgeglichenes, westliches, bürgerliches Ungarn wollen. In diesem Sinne sind wir die Partei der bürgerlichen Mitte, und wir haben das Lager der oppositionellen Wähler erweitert.
derStandard.at: Apropos Umfragen: Die große Frage, die sich bei der Wahl in April stellt, liegt nicht darin, ob es einen Regierungswechsel geben wird, sondern ob es möglich ist, die Zweidrittelmehrheit der Fidesz-Regierung zu verhindern.
Gordon Bajnai: Viktor Orbán versucht mit einem neuen Wahlsystem – das ein bisschen dem englischen System ähnelt – zu erzwingen, dass es nur zwei politischen Pole im Land gibt: Fidesz und seine Gegner. Er hoffte, dass sich die Parteien der Opposition nicht zusammenschließen. So könnte ein Fidesz-Kandidat auch mit 30 Prozent einen Wahlbezirk gewinnen, falls gegen ihn drei bis vier weitere Kandidaten einer zersplitterten Opposition antreten. Er vertraut auf die geringe Partizipation und die Spaltung der Opposition. Auf meine Initiative hin haben sich alle oppositionellen Parteien messbarer Unterstützung in Form einer Allianz zusammengetan. Dieses Bündnis tritt nun gemeinsam gegenViktor Orbán an, und es hat den Glauben an den Regierungswechsel bereits verdoppelt. Früher war die Opposition geschwächt, weil sie gespalten war. Dem haben wir im Jänner ein Ende gesetzt.
derStandard.at: Zwei Monate haben Sie, damit das Wahlprogramm der Gesellschaft präsentiert wird und es ihre Akzeptanz findet. Welche sind die wichtigsten Messages?
Gordon Bajnai: Ungarn wählt nicht einfach zwischen links und rechts, der Einsatz ist viel größer. Ungarn wählt seine Zukunft. Das Land kann eine sich von Europa abkehrende, postsowjetische Zukunft, ‘Orbánistan’, wählen, in welche Richtung uns die neuesten Verbündeten und strategischen Partner der jetzigen Regierung treiben. Es kann auch die Zukunft wählen, die die überwiegende Mehrheit der Ungarn 1990 wollte: ein ruhiges, friedliches, bürgerliches, demokratisches, europäisches Land. ‘Orbánistan’ oder normales Ungarn. Die Wahl in April betrachten wir als eine Volksabstimmung.
derStandard.at: An der Columbia University sagten Sie unlängst, dass das Orbán’sche Regierungsmodell eine „potenzielle Infektions- und Gefahrenquelle” für die Stabilität Osteuropas und der EU darstellt. Wie würden Sie dieses Modell beschreiben, und worin sehen Sie dessen Gefahr?
Gordon Bajnai: Charakteristisch für die postsowjetischen Staaten ist, dass ein enger, aus wenigen Personen bestehender Clan und die zu ihm gehörende loyale Klientel die Staatsmaschinerie am Laufen halten. Ziel dieser Macht ist es, jeden von der Regierung direkt abhängig zu machen. Zu den Charakteristiken gehört auch, dass dieser Clan über die Medien in vollem Ausmaß herrscht, teilweise fallen Medien in die Hände der hinter dem Premier stehenden Oligarchen. Ebenso wurde das Prinzip der Gewaltenteilung eliminiert: Denken wir an die Beschneidung des Verfassungsgerichtshofes, die Verstärkung der Medienaufsicht durch den Medienrat, die Zwangspensionierung der älteren Richter oder die Ernennung vom Parteigefährten des Premiers, György Matolcsy, zum Notenbankchef. Auch der Mangel an wirtschaftlicher Nachhaltigkeit prägt dieses System. Das, was Orbán tut, hat Risiken über die ungarischen Grenzen hinweg. Wenn das Orbán’sche Modell erfolgreich ist und ein neues Mandat erhält, dann werden Regierungspolitiker und Oppositionelle in vielen anderen Ländern Europas denken, dass man das nachmachen sollte.
derStandard.at: Laut Orbán besteht die Zukunft des Landes und Europas in der westlichen Identität und der östlichen Aktivität. Was denken Sie darüber?
Gordon Bajnai: Orbán sagte einmal: „Achten Sie nicht darauf, was ich sage, sondern was ich tue.” Ich versuche seinem Rat zu folgen. Er empfindet die EU als eine Bürde, nur die von der EU erhaltene finanzielle Förderung bindet ihn an Europa. Die Entscheidung im Fall der Erweiterung des AKWs in Paks bindet Ungarn für 60 Jahre an die russische Atomindustrie und den nuklearen Brennstoff und erhöht in radikalem Ausmaß die schon vorhandene Abhängigkeit Ungarns in Energiefragen. Außerdem sieht es so aus, dass weitere Vereinbarungen in diesem Fall getroffen wurden, die Ungarn ausliefern. Damit Orbán bei der Wahl erfolgreich ist, hat er als einziges Wahlargument die Senkung der Wohnnebenkosten (Elektrizität, Gas, Wasser etc.). Deren Basis ist die Senkung des Gaspreises. Es sieht so aus, als würde Orbán mit dem kurzfristig künstlich gedrückten Preis für russisches Gas die Wahl gewinnen. Für den künstlich gedrückten Preis zahlt er, zahlen eigentlich wir mit der Investition in Paks.
derStandard.at: Laut der Regierung wird durch die Erweiterung des AKWs der Strompreis niedriger, die energetische Unabhängigkeit des Landes und das BIP größer, Tausende von Arbeitsplätzen werden dadurch geschaffen.
Gordon Bajnai: Im Gegenteil. Wegen der Investitionskosten wird die Erweiterung des AKWs in Paks ungefähr zweimal so teuren Strom erzeugen, als man ihn auf dem Markt kaufen kann. Ungarn braucht die in Paks erzeugte Menge an Strom nicht, unser Energieverbrauch ist wesentlich niedriger, als wir es früher dachten. Für ein Drittel der Investition in Paks könnte man alle älteren Wohnungen und Häuser isolieren, sodass der Energieverbrauch um 30 Prozent zurückgehen würde. Für die Investition wurde ein 21-Jahres-Kredit aufgenommen, der Ungarn jährlich ein Prozent des BIP kostet, damit wächst das Defizit. Wenn sich die Staatsverschuldung von den aktuellen 80 Prozent auf 90 Prozent erhöht, dann erreicht Ungarn eine sehr riskante Zone. Unsere Energieabhängigkeit von Russland wird nicht sinken, sondern wachsen. 80 Prozent unseres Gases haben wir bis jetzt schon aus Russland bezogen. Dazu kommt noch, dass unser Stromverbrauch zu 60 bis 70 Prozent vom russischen Brennstoff abhängig wird.
derStandard.at: Während der vorangegangenen sozialliberalen Regierung hat man auch eine Annäherung an Russland beim Thema Energie sehen können.
Gordon Bajnai: Unterscheiden wir zwischen drei Fakten. Die von mir geführte Regierung unterstützte die Verlängerung der Lebensdauer der bereits funktionierenden Reaktorblöcke, damit sie ein Jahrzehnt länger funktionieren können und damit wir Zeit für eine Energiewende haben. Wir waren auch für eine fachliche Vorbereitung und eine breite gesellschaftliche Diskussion darüber, ob wir die Erweiterung brauchen. Ich bin nicht gegen Atomenergie um jeden Preis. Ich glaube allerdings, dass eine solche Entscheidung mit einer fachlich und gesellschaftlich sehr gründlichen Vorbereitung getroffen werden soll. Jetzt gab es weder eine Konsultation noch eine gesellschaftliche Debatte. Das ist ein schlechter Pakt, der gegen die Interessen des Landes geht.
derStandard.at: Nehmen wir an, Sie gewinnen die Wahl. Machen Sie die Investitionen rückgängig?
Gordon Bajnai: Selbstverständlich. Wir warnen alle Entscheidungsträger davor, sich zwei Monate vor der Wahl festzulegen. Wir fordern die Durchsetzung der nationalen Interessen. Wir sind nicht russenfeindlich, Russland folgt seinen eigenen Interessen. Ich habe ein Problem mit der ungarischen Regierung, weil es ihre Aufgabe wäre, die ungarischen nationalen Interessen zu vertreten. Sie tut es aber nicht, sie tut genau das Gegenteil.
derStandard.at: Ungarn entschuldigte sich vor kurzem vor der UNO erstmals für den Holocaust. Gleichzeitig wird damit – im heimischen Holocaust-Gedenkjahr – ein stark umstrittenes Denkmal der deutschen Besatzung im Herzen Budapests errichtet. Wie sind diese Äußerungen zu vereinbaren?
Gordon Bajnai: Überhaupt nicht. Die Regierung führt doppelten Diskurs. Sie organisiert richtigerweise ein Holocaust-Gedenkjahr in Ungarn. Währenddessen verstärkt sie mit dem Denkmal eine gesellschaftliche Sichtweise, als hätte Ungarn einfach als unschuldiges Opfer unter dem Nationalsozialismus gelitten. Im geistigen Sinne versucht die Regierung das Orwell’sche Spiel zu spielen: „Wer die Vergangenheit kontrolliert, kontrolliert die Zukunft: Wer die Gegenwart kontrolliert, kontrolliert die Vergangenheit.” Das Denkmal ist Teil der geistigen Brunnenvergiftung, die von der Regierung bereits seit einiger Zeit betrieben wird: in Schulbüchern tauchen Poeten auf, die auch Nazi-Gedanken verbreiteten, sie führt Kulturkampf in Ungarn, nach politischer Überzeugung selektiert sie zwischen Künstlern. Dieses zynische Denkmal ist Teil davon, als Konsequenz drohen jüdische Organisationen mit der Suspendierung ihrer Teilnahme am Holocaust-Gedenkjahr.
derStandard.at: Der Forint ist gegenüber dem Euro 15 Prozent schwächer als 2010, als Sie die Macht anViktor Orbán übergeben haben. Inwieweit kann man die Schwäche der Landeswährung mit der generellen Unsicherheit um Emerging Markets erklären?
Gordon Bajnai: Die ‘Mini-Krise’ auf dem Finanzmarkt Ungarn hat die Dimension jener Länder erreicht, die von den Investoren als riskant eingestuft werden: die Türkei, Argentinien oder Südafrika. Es ist ein warnendes Zeichen dafür, dass die Wirtschaft in Ungarn nicht gesund ist. Die Wirtschaft wuchs nur um 1 bis 1,5 Prozent während vier Jahren der Orbán-Regierung, die Slowakei und Polen sind an uns vorbeigezogen.
derStandard.at: Die Wirtschaftslage kennend – wie lange braucht man, um sie umzudrehen?
Gordon Bajnai: Es wird nicht einfach, wir dürfen uns keine Illusionen machen. Das Vertrauen ist nicht bloß in die Orbán-Regierung erschüttert, sondern in Ungarn. Es braucht Zeit, bis man sieht, dass in Ungarn wieder der rationale Verstand herrscht und das Land weiß, wo seine Zukunft liegt. Die neue Regierung soll deshalb sehr schnell und entschieden handeln, gleichzeitig aber vorsichtig sein, dass sie keine Wunder verspricht.
derStandard.at: Im November erläuterten Sie in einem Interview, dass Sie „in einem Jahr” Premier werden. Nach den oppositionellen Verhandlungen ist das unrealistisch. In welcher Position sehen Sie sich aktuell in einem Jahr?
Gordon Bajnai: Ich würde Margaret Thatcher zitieren: „Wichtig ist nicht, wer du sein willst, sondern was du machen willst”. Für mich ist das Wichtigste, dass Ungarn auf den Weg einer normalen, europäischen Entwicklung zurückkehrt. Dafür ist es nötig, dassViktor Orbán nicht mehr Premier ist. Wenn der Preis dafür war, dass ich meine persönlichen Ambitionen zurückstecke, dann ist das in Ordnung. Momentan konzentriere ich mich auf die Wahlkampagne im Rahmen des oppositionellen Zusammenschlusses, reise quer durchs Land und bereite mich darauf vor, dass ich die Delegation meiner Partei für die Koalitionsverhandlungen nach der Wahl am 6. April führen werde.