Geheimsache Grenzöffnung: Horn trifft Kohl auf Schloss Gymnich

Der letzte hochpolitische Akt vor der Öffnung der Grenze war so geheim, dass Ungarns Botschafter Istvan Horvath binnen weniger Tage hektisch mehrmals zwischen Bonn und Budapest hin und her pendeln musste, um Nachrichten zu überbringen. Telefonieren oder Briefeschreiben war riskant. Die Stasi sollte nicht mitbekommen, was Ende August 1989 geplant war: Ungarns Ministerpräsident Miklos Nemeth und Außenminister Gyula Horn wollten eiligst mit Bundeskanzler Helmut Kohl und Außenminister Hans-Dietrich Genscher zusammenkommen.
Bundeskanzler Helmut Kohl (r) begrüßt den ungarischen Ministerpräsidenten Gyula Horn (Archivbild vom 28. April 1998).

In der berühmten Vierer-Runde, die sich am 25. August auf Schloss Gymnich bei Bonn traf, teilten Nemeth und Horn den Bonnern mit, dass sie die ungarische Grenze für DDR-Bürger offiziell öffnen wollten. Erwähnt wird dies im Gesprächsprotokoll nicht. Darum musste sich der Schweizer Historiker und Journalist Andreas Oplatka für sein Standardwerk zur Öffnung des Eisernen Vorhangs auf die lückenhaften Erinnerungen der Teilnehmer des Treffens vor 20 Jahren stützen.

Moskau einverstanden?

Kohl, schreibt Oplatka, habe mehrmals besorgt nachgefragt, ob Moskau mit den ungarischen Plänen einverstanden sei. Die Ungarn hätten ihn beruhigt. Ferner habe Kohl gefragt, wie sich Bonn den Ungarn gegenüber materiell erkenntlich zeigen könnte. Die Ungarn hätten dies stolz abgelehnt.

Die Grenzöffnung gen Westen, die Horn am 10. September verkündete, war jedenfalls mit dem Gymnicher Treffen beschlossene Sache. Von nun an ging es nur noch um das Datum und um Transportmöglichkeiten für die ausreisewilligen DDR-Bürger. Vorsorglich fragte Kohl seinen österreichischen Kollegen Franz Vranitzky, ob die damals neutrale Alpenrepublik die DDR-Flüchtlinge durchreisen lassen würde.

Massenflucht ging voraus

Schloß Gymnich bei Bonn, das ehemalige Gästehaus der Bundesregierung (Archivfoto vom 16. Juni 1998).

Dramatische Vorfälle hatten die Entscheidung der Ungarn beschleunigt. Am 19. August waren erstmals Hunderte DDR-Bürger bei Sopron nach Österreich geflohen, ohne dass Ungarns Grenzschutz eingriff. Sie hatten dazu eine kurze Grenzöffnung anlässlich des „Paneuropäischen Picknicks” genutzt, das offiziell als ungarisch-österreichisches Friedensfest an der gemeinsamen Grenze geplant war.

Nur drei Tage später, am 21. August, erschoss ein ungarischer Grenzschützer den 36 Jahre alten DDR-Bürger Klaus-Werner Schulz, als dieser mit Freundin und Kind nach Österreich fliehen wollte. Die Regierung in Budapest suchte daraufhin nach einer schnellen Lösung, zumal das Ende der Schulferien nahte und somit eine Welle von ostdeutschen Urlaubsheimkehrern vom Schwarzen Meer zu erwarten war. Möglicherweise würden viele versuchen, dann in den Westen zu kommen.

 

In der ungarischen Regierung kursierten Pläne, denen zufolge die DDR-Flüchtlinge insgeheim in Bussen oder verdunkelten Zügen in den Westen gebracht werden sollten. All dies wurde verworfen – mit einer Ausnahme: 108 DDR-Bürger, die in der deutschen Botschaft in Budapest kampiert hatten, wurden in einer geheimen Aktion in der Nacht zum 24. August vom Internationalen Roten Kreuz nach Wien geflogen.

Währenddessen rang Außenminister Horn um eine diplomatische Formel, mit der die Grenzöffnung für die kommunistischen Bruderstaaten akzeptabel gemacht werden konnte. Denn ein Vertrag mit der DDR von 1969 verpflichtete Ungarn, DDR-Bürger nicht ins westliche Ausland weiterreisen zu lassen. Die Kündigungsfrist dieses Abkommens betrug drei Monate. Zu lang – Eile war geboten. Nach langem Kopfzerbrechen beschloss Horn, „einige Punkte” dieses Abkommens „zeitweise außer Kraft zu setzen”.

Als diese Formel gefunden war, galt es, schnellstens Bonn zu informieren. Dies geschah auf Schloss Gymnich. Trotz aller Geheimhaltung berichtete die ungarische Nachrichtenagentur MTI kurz danach über das Treffen – die Quelle ist unbekannt. Kohl war jedenfalls darüber so erschrocken, dass er sofort Michail Gorbatschow anrief. Der Kremlchef konnte den Kanzler aber beruhigen.