Pressespiegel: Ungarns Verfassungsgericht kippt Wahlrechtsreform

Für Regierungschef Viktor Orban ist es eine deutliche Niederlage. Gekippt haben die Verfassungsrichter vor allem den Plan, dass nur noch wählen darf, wer sich spätestens zwei Wochen vor dem Wahltermin registrieren lässt. Das hätte Wechselwähler und vor allem Kurzentschlossene vom Urnengang abgehalten.

Der Generalsekretär des höchsten ungarischen Gerichts, Botond Bitskey, teilte mit: „Das Verfassungsgericht hat entschieden, dass die Wahlregistrierung für Bürger mit Wohnsitz in Ungarn verfassungswidrig ist. Der Staat muss den Bürgern ein uneingeschränktes Wahlrecht garantieren.”

Audio: Ungarisches Verfassungsgericht kippt Orbans Wahlgesetz

 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

AudioRalf Borchard, BR-Hörfunkstudio Wien04.01.2013 20:27 | 3’09

  • Download Download der Audiodatei: 


      

Meinungsumfragen künftig auch Tage vor der Wahl

Verworfen hat das Verfassungsgericht auch geplante Einschränkungen bei der Wahlwerbung. Die Regierung Orban wollte Wahlwerbung weder bei privat betriebenen Radio- und Fernsehsendern noch in Kinos zulassen. Meinungsumfragen schon sechs Tage vor einer Wahl zu verbieten – auch das halten die Verfassungsrichter für unzulässig.

Regierung akzeptiert Niederlage

Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban hält eine Rede in Debrecen (Archivfoto vom 19.04.2012).  (Foto: dpa)Großansicht des BildesDer ungarische Ministerpräsident Viktor Orban akzeptierte die Entscheidung.Zum ersten Mal akzeptiert die Regierung auch eine solche Niederlage. Bisher hatte Orbans rechts-konservative Fidesz-Partei die Strategie verfolgt, Gesetze – etwa nach Kritik der Europäischen Union – in leicht abgeschwächter Form doch noch durchzusetzen. Diesmal sagt Fidesz-Fraktionschef Antal Rogan: „Nach Konsultationen mit dem Ministerpräsidenten und dem Parteivorstand von Fidesz kann ich eines sicher sagen: Vor den Parlamentswahlen 2014 wird es keine Wählerregistrierung geben.”

Damit ist das „Nein” der Verfassungsrichter ein symbolischer Erfolg für die ungarische Opposition. Sozialisten, andere kleinere Parteien, und das außerparlamentarische Bündnis „Zusammen 2014” versuchen zurzeit, ihre bisherige Zersplitterung zu überwinden. Der Budapester Parteichef der Sozialisten, Zsolt Molnar, spricht von einer „sachlichen Entscheidung” der Verfassungsrichter: „Weder rechtlich noch politisch oder gesellschaftlich konnte diese Pflichtregistrierung gerechtfertigt werden. Sie hätte ausschließlich den Interessen von Fidesz gedient.”

Unzufriedenheit mit der Regierung

Wer auf den Straßen Budapests nach dem Urteil des Verfassungsgerichts fragt, erhält unterschiedliche Antworten. Mit der Regierung unzufrieden sind aber viele: „Ich verstehe die ganze Sache sowieso nicht”, sagt dieser Kleinunternehmer, „was soll eine solche Registrierung vor der Wahl, für wen soll sie gut sein? Die sollen sich lieber mit den Problemen der Menschen befassen, denen geht es schlecht, es gibt keine Arbeit – damit sollten die sich beschäftigen.”

Eine Lehrerin sagt: „Ich bin der gleichen Meinung wie das Verfassungsgericht. Ausgestanden ist die Sache aber noch nicht. Theoretisch kann die Regierung immer noch ein Gesetz einbringen, das die Wahlregistrierung letztlich doch noch vorschreibt. Aber erst einmal wurde wenigstens das Gesicht der Gesetzlichkeit gewahrt.”

Fest steht nach dem Einspruch der Verfassungsrichter: Orban muss sich trotz Zweidrittel-Mehrheit im Parlament auf wachsenden Widerstand einstellen – nicht nur unter EU-Partnern, sondern auch in Ungarn selbst.

Dieser Beitrag lief am 4. januar 2013 um 17:34 Uhr bei Deutschlandradio Kultur.

Neue Zürcher Zeitung / INTERNATIONAL

Ungarns umstrittenes Wahlgesetz

Das Verfassungsgericht zwingt die Regierung Orban zu Gesetzesänderung

International Gestern

2 KommentareDas ungarische Verfassungsgericht hat Teile des umstrittenen Wahlgesetzes als nicht verfassungskonform bemängelt. Die Regierung Orban muss nun die beanstandeten Paragraphen anpassen und hat sich dazu auch schon bereit erklärt.Das ungarische Verfassungsgericht hat Teile des umstrittenen Wahlgesetzes als nicht verfassungskonform bemängelt. Die Regierung Orban muss nun die beanstandeten Paragraphen anpassen und hat sich dazu auch schon bereit erklärt. (Bild: Julien Warnand / Keystone)

Das ungarische Verfassungsgericht hat Teile des umstrittenen Wahlverfahrensgesetzes für verfassungswidrig erklärt. Die Regierung Orban zeigt Bereitschaft, die vom Gericht geforderten Änderungen vorzunehmen.
Charles E. Ritterband, Wien

Das ungarische Verfassungsgericht hat sich am Freitag auch zum inhaltlich umstrittenen Wahlverfahrensgesetz geäussert und Teile von diesem für verfassungswidrig erklärt. Das Parlament hatte das Gesetz am 26. November verabschiedet; am 28. Dezember hatte das Höchstgericht das Wahlgesetz bereits formell einer Kritik unterzogen.

Grundrechte tangiert

Das Verfassungsgericht hatte bemängelt, dass 18 Paragrafen des Wahlgesetzes, insbesondere die im Zentrum der politischen Kontroverse stehende Wählerregistrierung, formal als Übergangsregelung erlassen wurden. Das Gericht argumentierte, es handle sich dabei um Normen mit langfristigem Charakter, die deshalb in einem ordentlichen Gesetz festgeschrieben werden müssten. Das Parlament habe mit diesem Vorgehen seine Kompetenzen überschritten. Nun hat das Verfassungsgericht befunden, dass 6 der rund 400 Paragrafen des Wahlgesetzes verfassungswidrig sind und abgeändert werden müssen. Unter anderem müsse die Regierung beweisen, dass die kontroverse Wählerregistrierung einen unabdingbaren Teil des Wahlprozesses bilde. Der Fraktionschef des regierenden Fidesz, Antal Rogan, hat in einer raschen Reaktion auf den Spruch des Gerichts erklärt, dass die Regierung auf die Wählerregistrierung in der im Wahlgesetz festgeschriebenen Form verzichten und auch die weiteren geforderten Anpassungen vornehmen werde.

Auslandungarn, die neuerdings wahlberechtigt sind, können auch per Brief wählen, während die in Ungarn ansässigen Staatsbürger sich gemäss diesem Gesetz per Internet oder persönlich im Verwaltungsgebäude des Hauptorts des Komitats registrieren müssen. Diese Registrierungspflicht stelle eine mögliche Diskrimination vieler Wähler dar und begünstige tendenziell Fidesz-Wähler, argumentiert die Opposition. Sie bemängelt ausserdem, dass ein Unterschied zwischen Auslandungarn und in Ungarn niedergelassenen Bürgern gemacht werde.

Nun hat auch das Höchstgericht festgestellt, dass – unter Berücksichtigung der Judikatur des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofes das Wahlrecht durch die Registrierungspflicht «unbegründet eingeschränkt» werde. Die Bestimmungen, die Wahlwerbung auf die öffentlichrechtlichen Medien beschränkten, bildeten eine «schwere, unverhältnismässige Beschränkung der Meinungsäusserungs- und der Pressefreiheit». Auch seien die Unterbindung politischer Kinowerbung während des Wahlkampfes und das Verbot, weniger als sechs Tage vor dem Urnengang Umfrageergebnisse zu veröffentlichen, verfassungswidrig. In der nächsten Parlamentssitzung Anfang Februar soll das Wahlgesetz neu überarbeitet werden.

Unabhängigkeit gewahrt

Für die Regierung Orban stellt der Spruch des Höchstgerichts eine Ohrfeige dar, zumal mehr als die Hälfte der 15 Verfassungsrichter aus dem Fidesz stammen oder zumindest der Regierungspartei nahestehen. Das Verfassungsgericht, aber auch Staatspräsident Janos Ader, ein Fidesz-Mann der ersten Stunde und persönlicher Freund Orbans, der das Gericht vor Monatsfrist angewiesen hatte, das Wahlgesetz zu prüfen, haben mit dieser sachbezogenen Haltung in dieser höchst kontroversen Angelegenheit ihre Unabhängigkeit gegenüber der Regierung Orban unter Beweis gestellt.

Ungarn: Verfassungsgericht bremst Orbán

04.01.2013 | 18:23 |  Von unserem Korrespondenten PETER BOGNAR (Die Presse)

Die Höchstrichter hoben die umstrittene Wählerregistrierung auf. Die Regierung Orbán könnte sie mit Verfassungsmehrheit trotzdem durchbringen.

MEHR ZUM THEMA:

AUS DEM ARCHIV:

Die Presse / Ungarn: Verfassungsgericht bremst Orbán

Ungarn: Verfassungsgericht bremst Orbán 04.01.2013 | 18:23 |  Von unserem Korrespondenten PETER BOGNAR (Die Presse) Die Höchstrichter hoben die umstrittene Wählerregistrierung auf. Die Regierung Orbán könnte sie mit Verfassungsmehrheit trotzdem durchbringen04.01.2013 | 18:23 |  Von unserem Korrespondenten PETER BOGNAR (Die Presse)

Die Höchstrichter hoben die umstrittene Wählerregistrierung auf. Die Regierung Orbán könnte sie mit Verfassungsmehrheit trotzdem durchbringen

Budapest. Das ungarische Verfassungsgericht hat am Freitag der nationalkonservativen Regierung von Premier Viktor Orbán eine schwere Schlappe beigebracht: Die Richter hoben das von der Regierungspartei Fidesz verabschiedete Gesetz über die Einführung einer verpflichtenden Wählerregistrierung auf. Dieses Gesetz hatte im Vorjahr sowohl in Ungarn als auch im Ausland hohe Wellen geschlagen.

Viele Kritiker des Gesetzes sahen in der Registrierung einmal mehr einen Versuch der Regierung Orbán, die Demokratie in Ungarn zu beschneiden. Ihr Vorwurf: Das Gesetz beraube diejenigen Wähler ihres Wahlrechts, die es versäumen, sich bis zwei Wochen vor einer Parlamentswahl zu registrieren. Ebendies sah das vom Verfassungsgericht gekippte Gesetz nämlich vor.

Die Regierung führte demgegenüber ins Treffen, dass das Gesetz vor allem darauf abziele, die in Ungarn wahlberechtigten Auslandsmagyaren administrativ zu erfassen. Seit die Regierung Orbán 2010 ein Gesetz über die doppelte Staatsbürgerschaft eingeführt hat, können all jene Auslandsungarn im Mutterland wählen, die die ungarische Staatsbürgerschaft beantragt haben.

 

Staatspräsident widersetzte sich

Bei der Begründung seiner Entscheidung wies das Verfassungsgericht unter anderem darauf hin, dass das Gesetz über die verpflichtende Wählerregistrierung das Wahlrecht der in Ungarn Wahlberechtigten massiv einschränken würde. Hierbei berief es sich auf die „Praxis“ des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte.

Doch damit nicht genug: Das Verfassungsgericht hob auch noch weitere wichtige Elemente der im Vorjahr begonnenen Wahlrechtsreform der Regierung Orbán auf: So erklärte es den Beschluss der Regierung, politische Werbung während des Wahlkampfs nur mehr in den öffentlich-rechtlichen (elektronischen) Medien zuzulassen ebenso für verfassungswidrig wie das Verbot, in den letzten sechs Tagen vor einer Wahl Erhebungen von Meinungsforschungsinstituten zu veröffentlichen.

Die Überprüfung des Gesetzes über die Wählerregistrierung durch das Verfassungsgericht war erst durch das Einschreiten des Staatsoberhaupts János Áder möglich gemacht worden. Áder, der ein Urgestein der Regierungspartei Fidesz ist, hatte sich im Dezember des Vorjahres nämlich geweigert, das Gesetz mit seiner Unterschrift abzusegnen. Stattdessen leitete er es zur Kontrolle an das Verfassungsgericht weiter.

 

Regierung gelobt „Vernunft“

Damit brach das Staatsoberhaupt mit der Tradition seines über eine Plagiatsaffäre gestolperten Vorgängers Pál Schmitt (im Amt 2010 bis 2012), der nahezu jedes Gesetz der Regierung willfährig durchgewinkt hatte. Áder ist es mit seiner Standhaftigkeit nun wohl auch gelungen, jenen Kritikern den Wind aus den Segeln zu nehmen, die bei seinem Antritt behauptet hatten, er werde ebenso eine Marionette Orbáns sein wie Pál Schmitt.

Nach dem Urteil des Verfassungsgerichts sagte Fidesz-Fraktionschef Antal Rogán, dass die Regierung die Gerichtsentscheidung zur Kenntnis nehme. Gleichwohl erinnerte er daran, dass die Regierung dank ihrer Zweidrittelmehrheit im Parlament durchaus die „Möglichkeit” und die „Kraft” hätte, auf der Wählerregistrierung zu beharren und diese per Verfassungsänderung im Grundgesetz zu verankern.

Wie er sagte, sei pure Kraft aber nicht alles, die „Vernunft“ gebiete nun etwas anderes. Rogán verkündete denn auch, dass die Regierung Orbán die Einführung einer Wählerregistrierung von ihrer Tagesordnung genommen habe. Bei der kommenden Parlamentswahl 2014 wird es demnach also keine Registrierung geben.

(„Die Presse”, Print-Ausgabe, 05.01.2013)

Der Standard / Verfassungsgericht in Ungarn kippt umstrittene Wählerregistrierung

GREGOR MAYER AUS BUDAPEST, 4. Jänner 2013, 17:44

foto: apa/epa/warnand Niederlage für Premier Orbán, der die Wählerregistrierung zu seinen Gunsten nutzen wollte.

Das ungarische Verfassungsgericht hat die umstrittene Wählerregistrierung für verfassungswidrig befunden – Die Entscheidung stellt eine schwere Schlappe für Premier Orbán dar, der die Wahlrechtsreform zu einer Priorität seiner Amtszeit gemacht hatte

Im Streit um die ungarische Wahlrechtsreform hat Premier Viktor Orbán eine Niederlage erlitten: Das ungarische Verfassungsgericht kassierte am Freitag die umstrittene obligatorische Wählerregistrierung. Die Höchstrichter befanden die neue Bestimmung, wonach sich wahlwillige Bürger bis maximal zwei Wochen vor den Wahlen am Gemeindeamt anmelden müssen, für verfassungswidrig. „Die Registrierungspflicht schränkt das Wahlrecht auf unbegründete Weise ein”, argumentierten sie ihre Entscheidung.

Erstmals wäre die Wählerregistrierung bei den nächsten Parlamentswahlen im Frühjahr 2014 zur Anwendung gelangt. Der Fraktionschef von Orbáns Regierungspartei Fidesz, Antal Rogán, trat unmittelbar nach Bekanntwerden des Urteils vor die Presse und erklärte: „2014 wird es keine Wählerregistrierung geben.”

Gesetz auch in Fidesz-Kreisen umstritten

Die Maßnahme war selbst in Fidesz-Kreisen nicht unumstritten. Doch der Rechtspopulist Orbán hatte sein gesamtes politisches Gewicht in die Waagschale geworfen, um die Wählerregistrierung durch Fidesz-Vorstand, Fraktion und Parlament zu peitschen. Eine sachlich begründete Notwendigkeit hatte dafür nie bestanden – Meldewesen und Wählerevidenzen funktionieren in Ungarn klaglos. Fidesz-Granden hatten den Vorstoß unter anderem mit dem Hinweis begründet, man wolle „das Wählerbewusstsein stärken”.

Nach Ansicht von Beobachtern wollte Orbán mit der Registrierung hingegen bildungsferne und verarmte Schichten von den Wahlurnen fernhalten und damit seine Wiederwahl – bei sinkender Popularität – erleichtern.

Das Gesetz wurde Ende des Vorjahres von der Fidesz-Zweidrittelmehrheit im Parlament beschlossen. Der rechts-konservative Staatspräsident János Áder setzte es allerdings mit seiner Unterschrift nicht gleich in Kraft, sondern verwies es zur Normenkontrolle an das Verfassungsgericht.

Kompetenzentzug

Dessen Urteil stellt jedenfalls die schwerste Niederlage dar, die Orbán seit seinem Amtsantritt vor zweieinhalb Jahren einstecken musste. Bei früheren Anlässen hatte sich Ungarns starker Mann über Sprüche des Verfassungsgerichts hinweggesetzt. Als dieses etwa im Herbst 2010 die rückwirkende Deckelung der Beamtenpensionen kippte, ließ Orbán dem Verfassungsgericht einfach die Kompetenz entziehen, über wirtschaftspolitische Fragen zu entscheiden – und das strittige Gesetz neu beschließen.

Auch diesmal sah es zunächst so aus. Als das Höchstgericht vor einer Woche die Wählerregistrierung formal aus den Übergangsbestimmungen der Verfassung strich – und damit den Weg zum inhaltlich relevanten Urteil vom Freitag ebnete -, erklärte Fraktionschef Rogán noch, dann werde man eben die Wählerregistrierung in den Kerntext der Verfassung hineinschreiben.

Doch damit hätten Orbán und seine Getreuen eine „rote Linie” überschritten – die Legitimität der nächsten Wahlen hätte angezweifelt werden können, wenn die Registrierungspflicht trotz eines Neins des Gerichts weiter bestanden hätte. Rogán gab sich am Freitag vor der Presse abgeklärt. Die Stärke, um an der Registrierung festzuhalten, würde seine Fraktion wohl haben, meinte er. „Doch Stärke ist nicht alles, die Vernunft diktiert etwas anderes.” (Gregor Mayer/DER STANDARD Printausgabe, 5.1.2013)

Frankfurter Allgemeine / Ungarns WahlrechtWem zum Vorteil?

04.01.2013 ·  Ungarns Verfassungsrichter haben Teile des neuen Wahlrechts zu Fall gebracht. Wem die Regelungen genutzt hätten, ist allerdings nicht eindeutig zu sagen.

Von STEPHAN LÖWENSTEIN, WIEN

© DPAUngarns Verfassungsrichter haben schon mehrere von Viktor Orbáns Vorhaben gestoppt.

Das ungarische Verfassungsgericht hat schon einige Gesetze der Regierung von Viktor Orbán zu Fall gebracht. So verlangte es Korrekturen am Mediengesetz und verwarf ein Gesetz, das Obdachlose für eine unrechtmäßige „Nutzung öffentlichen Raumes für Wohnzwecke“ mit Geldstrafen oder Haft bedrohte. Zuletzt erklärte es Ende Dezember einen großen Teil eines Verfassungsanhangs für verfassungswidrig, weil er — anders als deklariert — keineswegs nur „Übergangsbestimmungen“ enthielt. Eine dieser Bestimmungen betraf auch die Notwendigkeit, sich zur Wahl vorab zu registrieren. Doch war diese Entscheidung nur formal, nicht inhaltlich begründet.

Die jetzt veröffentlichte Entscheidung zum Wahlrecht hat eine größere Bedeutung. Sie ergibt sich aus der zentralen Bedeutung von Wahlen in der Demokratie. Folgt man den Worten des Fraktionsführers der Regierungspartei, dann hat der Fidesz dies auch anerkannt. Er verzichtet nun auf den Versuch, mit seiner parlamentarischen Zweidrittelmehrheit die Verfassung dahingehend zu ändern, dass die beabsichtigten Änderungen doch noch ins Werk gesetzt werden können.

Anders sieht es bei der Frage aus, welche Auswirkungen die Entscheidung auf den Ausgang der im Jahr 2014 anstehenden Wahl haben kann. Dazu lohnt sich ein Blick auf die einzelnen Bestimmungen, die nun außer Kraft gesetzt worden sind — und auf die, die in Kraft bleiben.

Man kann spekulieren

Am meisten Aufsehen erregt hat die Registrierungspflicht für Wähler bis zu zwei Wochen vor dem Wahltermin. Sie hätte zur Folge, so lautete die Kritik der Opposition, dass sozial Schwache und Ungebildete sowie Unentschlossene von der Wahl ausgeschlossen würden. Ob das in Bezug auf die sozial Schwachen tatsächlich so sein würde, ist dabei unerklärt geblieben. Vor allem aber ist fragwürdig, ob Fidesz davon profitieren würde, wenn Ungebildete ausgeschlossen wären; denn die Stammwählerschaft dieser national und konservativ orientierten Partei lebt eher auf dem Land, während die Gebildeten gemeinhin überwiegend in den Städten verortet werden, vor allem in Budapest.

Anders sieht es bei der Stammwählerschaft aus. Die ist am ehesten noch beim Fidesz ausgeprägt und gilt als am leichtesten mobilisierbar. Und natürlich kann man spekulieren, dass Kurzentschlossene wahrscheinlich Protestwähler wären. Ob das wirklich so ist, kann maßgeblich von dem abhängen, was in den letzten zwei Wochen vor der Wahl noch geschieht. Abgesehen davon würde eine Schwächung von Protestwählern wohl auch die rechtsextreme Partei Jobbik schwächen.

Entsprechendes gilt auch für die anderen, nun außer Kraft gesetzten Bestimmungen, die den Wahlkampf eingeschränkt hätten. Man kann spekulieren, dass eine Beschränkung der Wahlwerbung auf den öffentlich-rechtlichen Rundfunk der Regierungspartei nützen würde. Dass dies ein wunder Punkt ist, zeigt nicht zuletzt die Affäre um den Schriftsteller Peter Esterhazy, der für eine Radiosendung einen Beitrag abgegeben hatte, der um einen Teil mit regierungskritischem Potential gekürzt wurde. Der zuständige Redakteur wurde auf Protest des Schriftstellers hin gemaßregelt.

Mehrheitswahlrecht begünstigt stärkste Kraft

Fidesz möchte aber daran festhalten, dass künftig auch die im Ausland lebenden Ungarn wählen dürfen. Dafür ist auf jeden Fall eine Registrierung nötig, was das Verfassungsgericht auch gutheißt. Die Auslandsungarn, vor allem die in den hergebrachten ungarischen Siedlungsgebieten in den heutigen Nachbarstaaten lebenden, gelten als potentielle Anhänger von Fidesz (oder auch von Jobbik). Doch sind von ihnen nur — je nach Schätzung — bis zu 400 000 mit einem ungarischen Pass ausgestattet und könnten tatsächlich wählen.

Wichtiger als diese Regelungen ist allerdings eine, die vom jüngsten Verfassungsgerichtsurteil unberührt bleibt. Gut die Hälfte aller Parlamentsabgeordneten wird nicht nach dem Proporzanteil der Parteilisten gewählt, sondern direkt in Wahlkreisen. Diese Regelung, im Zuge einer allseits als notwendig erkannten Parlamentsverkleinerung schon 2011 beschlossen, gab es auch schon im früheren Wahlrecht, das seit 1990 zumeist Mitte-Links-Regierungen hervorgebracht hatte. Doch dieser Teil des politischen Spektrums ist inzwischen aufgesplittert. Stärkste Kraft, obwohl seit Regierungsantritt deutlich gestutzt, ist immer noch Fidesz (zusammen mit dem christdemokratischen Partner KDNP).

Ein Mehrheitswahlrecht, auch in dieser gemischten Form, begünstigt die stärkste Kraft. Und diese Wirkung ist durch eine Vereinfachung verstärkt worden: In den Wahlkreisen wird nur mehr in einem Wahlgang gewählt — eine Einigung der unterlegenen Parteien für einen zweiten Wahlgang ist also nicht mehr möglich. Freilich kann auch diese Regelung eine andere Wirkung haben: Sie kann die zerstrittene Opposition zur Einigung (vor dem ersten Wahlgang) zwingen.

Quelle: F.A.Z.