Unter dem diplomatischen Schutz der Schweiz

Als junger Mensch den Krieg in Budapest überleben – Ágnes Heller und Agnes Hirschi. Die Andrássy Universität Budapest ist eine Brücke zwischen Ländern, zwischen Epochen, so zwischen Ungarn und der Schweiz 2018 und den Kriegsjahren, im konkreten Fall dem Winter 1944–45 in Budapest. Dazu erschien im November 2017 der Erinnerungsband „Under Swiss Protection – Jewish Eyewitness. Acounts from Wartime Budapest”. (Lead-Bilder: Carl Lutz kommt nach Budapest an; täglich standen Tausende für Schweizer Schutzpass vor dem Pester Glashaus.)

Der geistige Motor dieses Interviewbandes ist die Schweizer Journalistin Agnes Hirschi, Stieftochter von Carl Lutz, die dem Retter ungarischer Juden 1944–45 am Sterbebett 1975 versprochen hatte, sein Wirken  als Vizekonsul  der Schweizer Botschaft 1942–1945 in Budapest, Schwerpunkt die Erinnerung an die 10 000 Schutzbriefe, bis dato 62 000 gerettete ungarische Juden lebendig zu bewahren.

Es herrscht noch Friden: Lutz und seine erste Frau Gertrud Lutz-Fankhauser im Garten der  Budaer Britischen Botschaft. 

Zum Thema trafen sich zwei Überlebende des Holocaust, die Philosophin Ágnes Heller (1929) und die Journalistin Agnes Hirschi (*1938) im  Spiegelsaal der Andrássy Universität.

Persönliche Erinnerungen  einer Jugendlichen, Ágnes Hellers und eines Kindes wurden lebendig. Temperamentvoll gestikulierend  erzählte die international anerkennte Philosophin Prof. Dr. Ágnes Heller über die Angst, die mit der Machtübernahme der Pfeilkreuzler 1944 das Leben ihrer Familie bestimmte, das wiedrholte vergebliche Schlangestehen beim Pester Glashaus, wo die übelebenswichtigen Schutzpässe ausgestellt wurden, aber auch die Erkenntnis, dass  der Mensch allein nicht böse ist, dass er es  erst in der Gruppe wird. Ein Wehrmachtsoldat begleitete sie ins internationale Ghetto in Budapest, hätte sie aber auch an die Donau führen können, wo die Juden direkt in den Strom geschossen wurden. An solche menschliche Menschen müsse man sich erinnern, denn, erst recht – Zitat Ágnes Heller – „wenn man den Namen nicht vergisst, vergisst man auch den Menschen nicht”.

So ein Mensch war Carl Lutz (1895–1975), den Ágnes Heller nicht persönlich kennenlernen durfte, sie gehörte zu den vielen Namenlosen, die um ihr Leben bangten, während Agnes Hirschi mit ihrer Mutter von Carl Lutz zwecks Überlebens in der Botschaft aufgenommen wurden, die Mutter nach dem Krieg Carl Lutz heiratete und mit ihm und der Tochter in die Schweiz zog.

Während Carl Lutz weltweit, von Deutschland (Verdienstkreuz) bis Israel (Yad Vashem) gefeiert wurde, blieb ihm die Anerkennung in seiner Heimat lebenslang verwehrt. In der Schweiz, deren Rolle im Zweiten Weltkrieg nicht unumstritten war, wurde 1945 sogar eine parlamentarische Untersuchung gegen ihn eingeleitet. Die Anerkennung blieb aus. Carl Lutz starb frustiert 1975.

Gegen diese Ungerechtigkeit, gegen das Vergessen ist seither Agnes Hirschi aktiv. Über ihre Erinnerungen aus der Kindheit fällt ihr nur die Dunkelheit ein, davor musste sie sich als Folge der Bombardierungen des Budaer Burgviertels, wo sie in der ehem. Englischer Botschaft behütet lebte, im Keller fürchten und verträgt die Dunkelheit auch heute nicht. Ágnes Heller berichtete von posttraumatischen Erlebnissen, dass sie lange Zeit nach dem Krieg nicht an der Donau spazieren gehen konnte, weil sie das Bedürfnis hatte, ins Wasser zu springen.

Agnes Hirschi reist unermüdlich durch die Welt, um das Andenken an Carl Lutz lebendig zu halten, um mit den 36 Interviews mit Holocaust-Überlebenden gegen das Vergessen aufzurütteln. Der Erinnerungsband soll in Deutsch und Ivrit erscheinen, möglichst auch in Ungarisch. Was Professorin Ágnes Heller den Studenten im Spiegelsaal der Andrássy Universität auf den Weg mitgeben wolle, wurde sie gefragt. „So alt bin ich noch nicht, dass ich… begann sie ihre Antwort,  alle sollten aber nachdenken und immer fragen, Menschen in Not helfen.

Lutz am Hof der zerstörten Britischen Botschaft Ende des 2-ten Weltkrieges.

Das Brückenschlagen verstehen die Eidgenossen auch mit den Schweizer Stipendien für Andrássy-Studenten sowie mit der für den 2. März in der Budapester Bibliothek Ervin Szabó angekündigten Ausstellung:  8 Monate in Ungarn. Was das Internationale Rote Kreuz (ICRC) für die jüdische Bevölkerung in Budapest getan hat. (Die 8 Ausstellungstafeln sind mit Titeln und Texten in Ungarisch und Englisch versehen, die Ausstellung wird bis zum 29. März geöffnet sein.)

PS: Carl Lutz war ein fleißiger Photograph. Er hinterließ 1200 Aufnahme, die unter Fortepan kostenlos abgerufen werden können.