Orbáns Rechtsruck in Ungarn „Autokratisch durchgeknallt”

 

 

Regierungschef Orbán: Ungarns Rechtsaußen in der Kritik

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Hamburg/Budapest – Es erinnert an die Situation fast auf den Tag genau vor einem Jahr: Damals reiste EU-Kommissionspräsidenten José Manuel Barroso nach Budapest, um Premier Viktor Orbán seinen Antrittsbesuch abzustatten. Der hatte gerade die EU-Ratspräsidentschaft übernommen. Doch sie wurde von Anfang an von heftiger Kritik begleitet: In Ungarn war zeitgleich ein umstrittenes Mediengesetz in Kraft getreten, das den staatlichen Einfluss auf Rundfunk und Presse drastisch vergrößerte. Der Unmut war enorm.

Alle warteten deshalb auf Barrosos Machtwort, doch der hielt sich in Budapest lieber zurück. Orbán habe ihm Veränderungen am Mediengesetz zugesichert, falls die EU dies verlange, sagte der Kommissionspräsident. Viel ändern an der Politik des polarisierenden Nationalkonservativen konnte die EU später dennoch nicht.

Jetzt, ein Jahr später, geht es nicht mehr nur um diePressefreiheit, die in Ungarn beschnitten wird, sondern um demokratische Grundrechte, die ausgehöhlt werden – erneut sucht Orbán die Kraftprobe mit Brüssel und brüskiert die Kommission. Barroso hatte in zwei Briefen rechtliche Bedenkengegen das neue Nationalbankengesetz deutlich gemacht. Es ermöglicht die Zusammenlegung des Geldinstituts mit der Finanzmarktaufsichtsbehörde, was einer Entmachtung der Notenbank gleichkommt.

Orbán beeindruckte dies nicht: Er ließ es mit der Zweidrittelmehrheit seiner nationalkonservativen Fidesz-Partei (Ungarischer Bürgerbund) und deren Satellitenpartei KDNP (Christlich-Demokratische Volkspartei) verabschieden. Im Prinzip kann er mit seiner Parlamentsmehrheit alles machen, was er will – und so ließ er im Galopp im April auch eine neue Verfassung durchwinken. Ungarn ist seit Januar offiziell keine Republik mehr, die Bezeichnung ließ Orbán ersatzlos aus dem Staatsnamen streichen. Stattdessen steht die Nation im Vordergrund, das neue Grundgesetz beginnt mit einem „nationalen Glaubensbekenntnis”.

„Schandfleck in der EU”

Zudem wurde in Zusatzgesetzen ein auf neun Jahre ernannter Haushaltsrat beschlossen. Dieser kann jederzeit gegen die Budgets künftiger Regierungen sein Veto einlegen und damit Neuwahlen den Weg ebnen. Die Kompetenzen des Verfassungsgerichts ließ Orbán stark beschneiden, die Oberste Richterin und der Oberstaatsanwalt sind auf neun Jahre ernannte Vertraute und können danach nur mit einer Zweidrittelmehrheit abgewählt werden. Die frühere Kommunistische Partei und ihre Nachfolger werden nun als „kriminelle Organisationen” bezeichnet, was rechtliche Folgen haben dürfte.

Kritiker monieren, dass der Premier so seine Macht zementiere, sprechen gar von einem Staatsstreich mit juristischen Mitteln. Orbán verbittet sich hingegen jegliche Einmischung. Er vollende lediglich den Übergang vom Kommunismus zur Demokratie. Für Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn ist Ungarn sogar „zum Schandfleck in der EU” geworden. Auch im Land selbst regt sich mittlerweile Protest: Zehntausende Ungarn demonstrierten zu Beginn der Woche gegen Orbán.

EU-Kommission prüft Gesetze

Und was macht die EU-Kommission? Die verzichtet vorerst auf scharfe Kritik, spricht von „Bedenken” und davon, dass man „besorgt” sei. Die Gesetze würden nun geprüft, so ein Sprecher. Am kommenden Mittwoch wolle sich die Kommission bei ihrer wöchentlichen Sitzung damit befassen. „Möglicherweise” gebe es Verfahren wegen der Verletzung der EU-Verträge.

Zu wenig, findet Hannes Swoboda, Vizepräsident der sozialdemokratischen Fraktion im EU-Parlament. „Barroso reagiert seit einem Jahr viel zu schwach”, sagt er SPIEGEL ONLINE. „Er hat Orbán dadurch letztendlich ermutigt, immer weiter zu gehen.” Der Kommissionspräsident müsse endlich aufhören „seinen Parteifreund Orbán zu schonen”. Der gehört wie Barroso der Europäischen Volkspartei (EVP) an, der Ungar ist sogar deren stellvertretender Vorsitzender.

Swoboda fordert nun – wie die Grünen und Liberalen in Brüssel -, Orbáns Fidesz aus der EVP-Parteienfamilie auszuschließen, solange Ungarn die Mahnungen der Kommission missachte.

„Wir haben genug geredet”

Als „autokratisch durchgeknallt” bezeichnet Daniel Cohn-Bendit, Co-Vorsitzender der grünen Europa-Fraktion, den ungarischen Premier. Die EU-Kommission müsse verhindern, dass Ungarn gegen den Geist der europäischen Verträge verstoße: „Wenn sie nach der Prüfung der Gesetze nichts unternehmen will, dann wäre das ein Skandal”, so Cohn-Bendit. „Wir haben genug geredet.”

Omnid Nouripur, Grünen-Außenpolitiker in Berlin, ärgern die bisher zurückhaltenden Reaktionen aus Brüssel. „Die EU”, sagt er, „steht da wie das Kaninchen vor der Schlange.” Es reichten nicht mehr allein kritische Beschlüsse des Europaparlaments zu Ungarn. Dass US-Außenministerin Hillary Clinton eine deutliche Warnung an Budapest schickte, steht aus seiner Sicht im Gegensatz mit der weitgehenden Tatenlosigkeit der europäischen Staaten. „Die EU blamiert sich ein weiteres Mal mit ihrem Krisenmanagement”, sagte Nouripur SPIEGEL ONLINE.

Der FDP-Europaabgeordnete Alexander Graf Lambsdorff fordert nun – wie die Sozialdemokraten – die „harte Keule” einzusetzen, ein Verfahren nach Artikel 7 des EU-Vertrags. Der sieht Sanktionen bis einschließlich des Entzugs der Stimmrechte in den EU-Gremien vor. Allerdings, so gibt Lambsdorff zu, gibt es für dieses Verfahren hohe Hürden: Der Europäische Rat müsste dies einstimmig beschließen. Dass überhaupt die „eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung” der EU-Grundwerte festliegt, muss von den Staats- und Regierungschefs mit Vierfünftelmehrheit festgestellt werden. Und so bleibt es wohl allein bei der Androhung eines solchen Verfahrens.

Bankrotter Staat

 

Zumal man sich bei der EVP, der stärksten Fraktion im Europaparlament, recht zurückhaltend beim Thema Ungarn gibt. Elmar Brok, außenpolitischer Sprecher, fordert nun zumindest eine Überprüfung von den neuen Begleitgesetzen.

Allerdings spielt die Zeit mittlerweile gegen Orbán: Die Wirtschaftslage in Ungarn spitzt sich zu. Der Kurs des Forint sank auf ein Rekordtief, sein Land braucht dringend frisches Geld. Allein in diesem Jahr müssen 4,8 von insgesamt 20 Milliarden Euro refinanziert werden, die das hochverschuldete Land von EU und IWFerhalten hatte. Doch bisher provozierte Orbán mit seinen Forderungen so stark, dass man in Brüssel und beim IWF genug hatte und die Gesprächbereitschaft verweigerte.

Der für die Verhandlungen zuständige ungarische Minister Tamás Fellegi änderte am Donnerstag nun die Tonlage: Budapest wolle neue Verhandlungen „ohne Vorbedingungen”.

Mitarbeit: Severin Weiland; mit Material von dapd